
GIVE ME LOVE, 2015, aus der Serie My Eternal Soul, 2009–heute, Acryl auf Leinwand, 194 × 194 cm
Performerin, Provokateurin, Malerin, Modeschöpferin, Unternehmerin, Ausstellungsmacherin?
Die japanische Künstlerin Yayoi Kusama (geb. 1929) ist all dies – und noch viel mehr. Kunst und Leben sind in ihrem Werk untrennbar. Diese Vielfalt zeigt der Gropius Bau in der ersten umfassenden Überblicksschau von Kusama in Deutschland. Hier steht die besondere Bedeutung Europas für ihr rastloses Schaffen der vergangenen 80 Jahre im Fokus – aber auch die Frage: Wie wirken weltberühmte Werke wie die Spiegelräume (Infinity Mirror Rooms) oder Techniken wie die Punktmusterungen (Polka Dots), hier und jetzt?
Bis heute setzt Yayoi Kusama ihre Kunst und auch sich selbst immer wieder neu in Szene. Für fast jedes Werk schafft sie eine Situation, die seinen Inhalt und Effekt in den Raum der Betrachtenden ausdehnt. Die Ausstellung und dieser Digitale Guide vermitteln einen Eindruck von wichtigen Originalwerken in diesen ursprünglichen Raumsituationen und ihren künstlerischen und gesellschaftlichen Hintergründen. Der Kreis schließt sich mit Kusamas neuesten Werken – eine Reise in die Unendlichkeit.

Yayoi Kusama im Alter von etwa zehn Jahren, ca. 1939
Auch wenn die Vollendung der vor mir liegenden Arbeit vierhundert Jahre dauern würde, ich würde genau in diesem Moment damit beginnen – so fühle ich mich.
– Yayoi Kusama: Infinity Net. Meine Autobiografie, 2016
Japan damals & heute

Matsumoto
Die schneebedeckten Gipfel der Japanischen Alpen, das kieselige Flussbett hinter dem Haus, die farbenprächtigen Blumenfelder der Familie – in dieser Idylle in der Kleinstadt Matsumoto wird Yayoi Kusama im Frühling des Jahres 1929 geboren. Skizzenblock und Wasserfarbe sind seit ihrer frühen Kindheit feste Begleiter. Doch Japan ist zu dieser Zeit eine strenge, militärisch geführte Gesellschaft. Traditionelle Werte prägen auch das wohlhabende Elternhaus von Kusama – Künstlerin zu werden, das war ein Kampf.

Accumulation of Corpses, 1950, Öl auf Papier, 45.3 x 52.3 cm
In ihrer Heimatstadt findet auch Kusamas erste Einzelausstellung statt – ein erster Erfolg.
Nach dem Studium der traditionellen japanischen Malerei „Nihonga” in Kyoto zeigt sie 1952 in Matsumoto über 200 kleinformatige Zeichnungen auf Papier. Bereits für diese erste Schau entwirft sie eine besondere Präsentationsweise. Sie befestigt die Zeichnungen an dünnen Fäden und hängt sie vor dickem, dunkelbraunen Stoff in zwei Reihen auf, die die Betrachtenden umgeben. Es entsteht die vereinnahmende Einheit von Werk, Raum und Mensch, die typisch für die Kunst von Yayoi Kusama sein wird.

Ausstellungsansicht von Kusamas erster Einzelausstellung im Ersten Gemeindezentrum, Matsumoto, 1952
Die Gefahr wird immer größer / Versteinert stehe ich inmitten des Dufts / Seht, sie erreichen Decke und Pfeiler
– Auszug aus dem Gedicht “Veilchenwahn”, in: Yayoi Kusama: Infinity Net. Meine Autobiografie, 2016, S. 105
Georgia O‘Keeffe
Ich habe gerade den ersten Schritt auf dem mühsamen Weg einer Malerin getan und bin noch lange nicht an dem Punkt, an dem Sie stehen, aber ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir zeigen könnten, wie man auf diesem Weg weiterkommt.
– Briefwechsel zwischen Yayoi Kusama und Georgia O’Keeffe, zitiert nach: Yayoi Kusama: Infinity Net. Meine Autobiografie, 2016, S. 132

Accumulation of Globulars (No. B), 1962, Ovale Papieraufkleber auf Papier, 62 × 74,5 cm
Infinity Nets
Kusamas Drang nach Entgrenzung bricht sich Ende der 1950er Jahre Bahn. Dank vielfältiger Unterstützung – nicht zuletzt durch die berühmte amerikanische Malerin Georgia O’Keeffe – erreicht sie ihre langjährige Wahlheimat: New York. Unendlichkeit (englisch: infinity) wird Kusamas künstlerisches Credo. In zugigen Ateliers arbeitet sie Tag und Nacht an großformatigen Leinwänden, die sie mit winzigen, detaillierten Netzmustern überzieht – und immer wieder auch Wände, Fenster und Stühle. Kusamas charakteristische Infinity Net Paintings entstehen. Mit ihnen wird sie zu einem neuen Stern am Himmel der New Yorker Kunstwelt. Gleichzeitig wünscht sie sich (und ihren Betrachtenden) nichts sehnlicher, als ganz in ihren Werken aufzugehen.

Dot Abstraction, 1958–1960, Öl auf Leinwand, 114 × 113 cm
Durch das Akkumulieren der Netzmaschen, die durch die einzelnen weißen Punkte als Negativ entstanden, wollte ich von der eigenen Position aus die Unendlichkeit des Universums vorhersagen und ermessen.
– Yayoi Kusama: Infinity Net. Meine Autobiografie, 2016
Psychoanalyse


Fotografie von Kusamas Ten-Guests Table, 1963, Schwarzweißfotografie, 23,8 x 18,3 cm
Das Motiv der Prunktafel, die mit phallischen Akkumulationen übersät ist, wird von Kusama immer wieder aufgegriffen, wie hier im Ten-Guests Table aus dem Jahr 1963.

Ausstellungsplakat, Aggregation: One Thousand Boats Show, Gallery Gertrude Stein, New York, 1963, 43,5 × 57,3 cm
Zu dieser Zeit findet Kusama die Objekte und Möbel für ihre Werke oft einfach auf der Straße, wie hier in Aggregation Row Boat (1963). Kusama versieht das auf den Straßen New Yorks gefundene Ruderboot mit unzähligen Stoffphalli und erweitert so ihre Accumulations ständig.
Aggregation: One Thousand Boats Show
Wiederholung ist nicht immer gleich Wiederholung. Kusamas Kunst verlangt erneut nach Grenzüberschreitung: von der rasend gefüllten Leinwand in einen von Stoff überwucherten Raum. Nach dem Prinzip der Wiederholung einer einzigen Form versammeln Kusamas Aggregations (deutsch: Verdichtungen) oder Accumulations (deutsch: Anhäufungen) Dinge des täglichen Lebens. Mit Watte gestopfte und genähte Stoffphalli bevölkern ein Ruderboot oder Möbelstücke, aufgeklebte Makkaroni überziehen Schaufensterpuppen und Kleidungsstücke. Es entstehen sogenannte Environments, also künstlerische Gestaltungen ganzer Räume.
Raumfahrt

Kusama in ihrem ersten Infinity Mirror Room – Phalli’s Field, Castellan Gallery, New York, 1965
Phalli’s Field
Wie kann man sich Endlosigkeit vorstellen, sie verbildlichen, sie gar empfinden? Kusama ist geradezu besessen von der Herausforderung, die das Phänomen der Unendlichkeit an die menschliche Vorstellungskraft stellt. Eine der vielen Möglichkeiten, dieses Gefühl künstlerisch auszudrücken, ist schließlich besonders erfolgreich: Kusamas Spiegelinstallationen, die Infinity Mirror Rooms.

INFINITY MIRROR ROOM – PHALLI’S FIELD (OR FLOOR SHOW), 1965/2013, genähter gefüllter Stoff, Holzpaneele und Spiegel, 250 × 455 × 455 cm
In Kusamas sorgfältig konstruierten Räumen, einer Art Spiegelkabinett, vervielfacht sich das eigene Spiegelbild ins Unendliche.
In diesen Spiegelräumen platziert die Künstlerin eine Vielzahl gleicher, oft organisch geformter Gegenstände. Ein besonders häufiges Muster – inzwischen Kusamas Markenzeichen – sind die Polka Dots. Das sind Punkte, die alle möglichen Gegenstände (und später auch Körper) bedecken und so vereinen. Völlige Vereinigung ist auch das Motto ihrer Endless Love Show, die mit Kusama’s Peep Show zwei gleichberechtigte Titel trägt. Im hier zu erlebenden Spiegelraum verstärkt Kusama den schwindelerregenden Effekt noch durch Musik und Licht.
Unsere Erde ist wie ein kleiner Polka Dot unter Millionen von anderen Himmelskörpern, eine Umlaufbahn voller Hass und Streitigkeit inmitten der friedlichen, stillen Sphären. Lassen Sie uns all dies ändern und diese Welt zu einem neuen Garten Eden machen.
– Auszug aus Yayoi Kusama: An Open Letter to My Hero, Richard M. Nixon, 1968, zitiert nach: Tatehata, Akira / Hoptman, Laura / Kultermann, Udo / Taft, Catherine: Yayoi Kusama. Revised and Expanded Edition, 2000, S. 103
Förderung & Fontana

Kusama in ihrer Installation Narcissus Garden auf der 33. Biennale von Venedig, Italien, 1966
Gleichzeitig wird die gezielte Inszenierung der Künstlerin selbst zu einem wichtigen Bestandteil jedes neuen Werks. Zur wohl überlegten Pose kommt ein eigens erdachtes Kostüm, Frisur und bald auch Körperbemalung (Body Painting). Kusamas Installationen – ihre raumgreifenden, multimedialen Skulpturen – werden zusehends zu Performances, also szenischen Darstellungen.
Venedig zum Beispiel, im Jahr 1966: Parallel zur ehrwürdigen Kunstbiennale in den eigens dafür errichteten Gartenanlagen Giardini performt Kusama auf eigene Faust (mit Einverständnis des Biennale-Komitees, aber ohne offizielle Einladung): im schimmernden Kimono tritt sie als Verkäuferin ihrer eigenen Werke auf. Sie bietet 1500 verspiegelte Kugeln für je 2 Dollar feil. Narcissus Garden betitelt sie das Werk, das vom renommierten Künstlerkollegen Lucio Fontana mitfinanziert wurde. Mit dieser Analogie zum Mythos von Narziss, der sein eigenes Spiegelbild der Liebe anderer vorzieht, kritisiert sie die Eitelkeiten in der internationalen Kunstwelt – Kusamas internationaler Durchbruch.
Udo Kultermann

Ausstellungsansicht Driving Image Show, Galerie M. E. Thelen, Essen, 1966
Driving Image Show
Wie wirken Kusamas provokante Aktionen, Ausstellungen und Selbstdarstellungen im Deutschland der 1960er Jahre? Es ist die Zeit nach dem verlorenen Zweiten Weltkrieg, die Zeit des Kalten Krieges zwischen den Gesellschaftsformen des Sozialismus und der Demokratie. Das Land ist in zwei gegensätzliche Staaten geteilt, gemeinsam scheint nur die Suche nach neuer Orientierung. New York, das damalige Zentrum der internationalen Kunstwelt, wird für Westdeutschland ein Fixpunkt am Firmament neuer kultureller Möglichkeiten. Dort weiten sich Kusamas Performances und Happenings zu groß angelegten Festivals aus und verbinden sich massenwirksam mit den internationalen Antikriegsbewegungen und Jugendkulturen der Nachkriegsgeneration.
Auch westdeutsche Künstler, wie die Düsseldorfer Künstlergruppe ZERO (gegründet 1958 von Heinz Mack und Otto Piene) zeigen ihre Werke in New York und treffen auf Kusamas Kunst. Diese schien die Suche nach der „Stunde Null“, dem Aufbrechen alter künstlerischer Werte und dem spirituellen Neubeginn, zu teilen – zum Beispiel ihre beweglichen Lichtskulpturen im Raum.

Ausstellungsansicht Driving Image Show, Galerie M. E. Thelen, Essen, 1966
Yayoi Kusama verzaubert unsere Welt immer wieder aufs Neue. Das Wesen ihrer Werke liegt in der großen Kraft, die von ihnen ausgeht. [...] Jetzt wird sie als große zeitgenössische Künstlerin wiedergeboren und entlädt die Sinnlichkeit einer kaum zu ermessenden Zukunft.
– Felix Guattari, zitiert nach: Yayoi Kusama: Infinity Net. Meine Autobiografie, 2002, S. 207

Kusama bei der Eröffnung ihrer Driving Image Show in der Galerie M. E. Thelen, Essen, 1966
Bevor Kusama 1965 für die Eröffnung ihrer ersten Soloschau in den Niederlanden das erste Mal über den Atlantik fliegt, war sie bereits an zahlreichen Gruppenausstellungen in Europa beteiligt – mehr als sonst irgendwo zu der Zeit. Nun will auch die Internationale Galerij Orez in Den Haag, ihre Kunst hier zeigen. Und Udo Kultermann hatte Kusama eine Einzelausstellung in Deutschland versprochen. Sie wird 1966 in der Galerie M. E. Thelen in Essen eröffnet. Dort präsentiert sie eine Variante ihrer Driving Image Show, die von ihrer New Yorker Stammgalerie über Mailand nach Deutschland wandert. Sie sorgt für Aufsehen in der Presse und sogar im Fernsehen. Denn diese „Show“ ist mehr als eine Ausstellung. Sie ist eine zentrale Schaffensphase, die sich um Zwangsvorstellungen im Zusammenhang mit Sex und mit Essen dreht.

Polka Dot Love Room
Neue Wirklichkeiten schaffen – das Credo der Performancekunst der 1960er Jahre, mit Yayoi Kusama an der Spitze. Zu einmaligen Happenings während Kusamas Ausstellungseröffnungen kommen Body-Painting-Aktionen, auch an öffentlichen Orten. Eine Truppe junger Darstellender bemalt ihre nackten Körper mit den typischen bunten Punkten, singt und tanzt. Kusamas orgienhafte Body Festivals werden international berühmt – und durch das Einschreiten der Polizei auch berüchtigt.

Den Haag zum Beispiel, im Jahr 1967: Im fluoreszierenden Licht von Kusamas Polka Dot Love Room mischt sich unter gepunktete Schaufensterpuppen-Skulpturen auch eine mit Punkten bemalte Schar nackter Menschen. Damit sprengt Kusama nicht nur die Grenzen zwischen den unterschiedlichen Genres der Kunst, sondern schließlich auch die Grenzen zwischen Performenden und Betrachtenden. Ohne ein aktives Publikum findet diese Kunst nicht statt.
Make love, not war

Magazincover KUSAMA orgy, Vol. 1, Nr. 1, November 1969, 42,9 × 28,9 cm
Kusama konzentrierte sich zunehmend auf die immer anspruchsvoller werdende Erschaffung und Umsetzung neuer Ausdrucksformen.
Denn selbst die aufwendigsten Fotoshootings können den besonderen Charakter dieser Kunst nicht mehr einfangen. Die Zeit ist reif für Kusamas ersten Film, Kusama’s Self-Obliteration (deutsch: Kusamas Selbstauslöschung, 1967). Kusama Enterprises ist nur eine von etlichen Firmen, die die Künstlerin im Jahr 1968 für die Organisation und Verbreitung ihrer Kunst gründet. Ein Body-Painting-Studio bietet individuelle Körperbemalungen und ist zugleich eine Modelagentur. Hinzu kommt die Herausgabe des KUSAMA orgy Magazins und die Organisation von Orgy Parties. Auf der 6th Avenue in New York eröffnet Kusama außerdem ein Modegeschäft.

Happening und Modenschau mit Kusamas Phalli’s Field im Hintergrund, New York, 1968
Des Kaisers neue Kleider: Mode wird zu einem neuen Ventil für Kusamas Kunst. Sie betont nun noch stärker die Bedeutung des Körpers. Kusamas Kleider geben stellenweisen den Blick auf die nackte Haut der Tragenden frei. Sie sind im Einklang mit den wichtigsten Forderungen der sexuellen Revolution und den Selbstbefreiungsbewegungen ihrer Zeit: zurück zur Natur, weg von der Massenware, Kampf gegen Konvention und Moral.
Für ihr Modelabel und ihr Geschäft veranstaltet Kusama aufwendige Modenschauen auf den Dächern von New York und anlässlich ihrer Ausstellungen in den Niederlanden. Das Besondere an ihrer Kleidung: Oft sind die Stücke von mehreren Personen tragbar (bis zu 25 gleichzeitig), gewähren die erforderliche Bewegungsfreiheit durch trichterförmige Schnitte oder entblößen bestimmte Körperteile durch kreisrunde Ausschnitte.
Und selbst für die vergleichsweise bequemen Kusama-Kissen heutiger Museumsshops gilt: dabei sein ist alles. Kusamas Mode ist Kunst, die das Leben nicht scheut. Sie fordert auf, Elementarteile der Gesellschaft neu zu denken.
Wenn ich in die Heimat zurückkomme / sind die Rosendornen verfault / Tränen auf Springkraut, Zinnien und Astern / Ich zerreibe, zermalme und verbrenne auf einem Stein / zermalme die Asche der zarten Blumen
– Auszug aus dem Gedicht Prisoner Surrounded by the Curtain of Depersonalization, zitiert nach: Yayoi Kusama: Infinity Net. Meine Autobiografie, 2002, S. 144

A Nest of Life, 1975, Collage, Tusche und Pastell auf Papier, 39,8 × 54,6 cm
Encounter of Souls
Manhattan Suicide Addict, der Titel von Kusamas erstem Roman (1978), spitzt das aufregende Leben von Künstler*innen in der Metropole zu: Ermüdung stellt sich ein, ein Leben jenseits von Party und Business wird erstrebenswert.
Im Jahr 1973 zieht sich Kusama schließlich nach Japan zurück – in eine psychiatrische Einrichtung in Tokio, in der sie seit 1977 bis heute lebt und arbeitet. Denn auch hier können sie ihre gesundheitlichen Probleme nicht davon abhalten, immer noch neue Gebiete für ihre Kunst zu erschließen. Das Schreiben von Essays und ganzen Romanen wird zum kreativen Rückzugsort – während die japanischen Medien kaum ein gutes Haar an Kusamas Kunst lassen.

Self-Portrait, 1972, Collage, Tusche und Pastell und Kugelschreiber auf Papier, 54,3 × 39,5 cm
Ich besinge einen Teil des Schattens, der verdeckt auf der Erde lebt, in dem das Ganze unaufhörlich in Erscheinung tritt. [...] Ich möchte im Verborgenen leben, in der Welt zwischen Mysterium und Symbol.
– Yayoi Kusama: Infinity Net. Meine Autobiografie, 2002


FLOWER PETAL, 1974, ungebrannter Ton und Farbe, 11,5 × 23,5 × 12,5 cm
Kusama füllt Holzschränke mit fantastischen Objekten, wie FLOWER PETAL (1974), verteilt Stoffe über Treppenaufgänge, platziert glitzernde Phallus-Schuhe und auch Fotografien von sich selbst.

The End of Summer, 1980, Installation aus Tisch mit zwei Stühlen, Maße variabel
Auch das altbekannte Motiv des Tischs findet in Encounter of Souls seinen Platz. Platz nehmen an dieser Tafel vor allem Stoffwucherungen, wie schon am Ten-Guests Table (1963) zwanzig Jahre zuvor.
Wie über die Jahre angeeignete, unterschiedlichste Kunstformen zu einem Gesamtkunstwerk zusammentreffen, zeigt sich 1983 in der Ausstellung Encounter of Souls (deutsch: Begegnung der Seelen) im Jardin de Luseine in Tokio. Die Schau ist ein neuer Höhepunkt für Kusamas allumfassenden künstlerischen Anspruch: statt wie bisher vor allem neu konstruierte Räume füllt sie hier Altes mit neuem Leben, ihrer Welt. Die gesamte Jugendstileinrichtung des alternativen Veranstaltungsortes dient als Präsentationsfläche für ihre bunten Objekte, Bodenarbeiten, Gemälde, Keramiken und vieles mehr. Auch ein Werk ihres alten Freundes, des US-amerikanischen Malers Joseph Cornell (1903–1972), ist zu sehen. Außerdem veranstaltet sie ein Happening mit dem heute weltberühmten japanischen Fotografen Shigeo Anzai (geb. 1939). Es erscheint wie ihre ganz persönliche Retrospektive, kurz vor ihrer ersten Überblicksschau in New York (1989) und ihrer internationalen Anerkennung durch große Museen rund um die Welt.

Yayoi Kusama Museum in Tokio, eröffnet 2017
Kusama-Welt
Das Jahr 1989 bringt Deutschland und der Welt eine Wende – und Yayoi Kusama ihre erste Retrospektive. Die Ausstellung im Center for International Contemporary Arts in New York, dem immer noch unangefochtenen Zentrum der internationalen Kunstwelt ist eine Anerkennung, die eine wahre „Kusamania“ auslöst. Im Jahr 1993 vertritt Kusama offiziell Japan auf der 45. Biennale di Venezia, ein gutes Vierteljahrhundert nach ihrer selbstorganisierten Aktion Narcissus Garden. Das Millennium beschert den Bürger*innen von Matsumoto eine Kusama-Retrospektive in ihrem Städtischen Museum – ein Heimsieg, gefolgt von Wanderausstellungen rund um die Welt. Und 2017 eröffnet schließlich ihr eigenes Yayoi Kusama Museum in Tokio.
Auch im Olymp der Mode heißt man Kusama nun willkommen: Branchengrößen wie Issey Miyake, Comme Des Garçons und Louis Vuitton laden sie zu umfangreichen Kollaborationen ein.

THE SPIRITS OF THE PUMPKINS DESCENDED INTO THE HEAVENS, 2015, verschiedene Materialien, 200 × 200 × 200 cm
„Kusama schafft immersive, destabilisierende Umgebungen, die sich auf ganze Gebäude ausdehnen und so das schwindelerregende hypnotische Gefühl erzeugen, das ihre eigene Kusama-Welt ausmacht – eine Welt, die die Körper von einem und allen umschließt.”
Stephanie Rosenthal, Direktorin Gropius Bau
Ehrungen

Pumpkin, Benesse Art Site, Naoshima, Japan, 1994
In diesen letzten Jahrzehnten von Kusamas Schaffen taucht ein Motiv auf, das sonst eher auf schaurig-schönen Halloween-Festen anzutreffen ist: der Kürbis.
Auch für Kusama verweist er auf eine frühe, mitunter schaurige Kindheitserinnerung, eine erste Halluzination, aber auch auf ihre positive Verbindung mit der Natur. Zurück in Japan besinnt sich Kusama auf figürliche Motive ihrer Malerei, zum Beispiel Augen. Aber auch ihr abstraktes Schaffen lebt neu auf: Der Kürbis wird zu einem wichtigen, neuen Muster für Kusamas gepunktete, grellfarbige Installationen.
Zu erleben waren Kürbisse zum Beispiel im Mirror Room (Pumpkin) (deutsch: Spiegelraum (Kürbis)) des Japanischen Pavillon der Biennale di Venezia oder auch auf öffentlichen Plätzen, wie zuletzt hell erleuchtet auf der Pariser Place Vendôme (2019). Er lädt zum gemeinsamen Tanz der Selbstaufgabe und Selbsterneuerung in der Kunst von Yayoi Kusama.

Noch eine andere Rückbesinnung schreitet seit Anfang der 2000er Jahre in Kusamas Werk fort: die Malerei.
Nun sind es wieder zweidimensionale Motive, so wie in ihren frühen Zeichnungen. Die quadratische Gemäldeserie My Eternal Soul (Meine ewige Seele, seit 2009) beispielsweise ist bis heute unabgeschlossen. Auch mit ihr erzielt Kusama einen die Betrachtenden ein- und umschließenden Effekt. Sie präsentiert ihre neuesten Malereien in Ausstellungen so, dass sie möglichst viel Wandfläche bedecken. Der Kreis der Kusama-Welt schließt sich in einem unendlich scheinenden Raum aus Farbe und Bewegung.

EVERY DAY I PRAY FOR LOVE, 2019, aus der Serie My Eternal Soul, 2009–heute, Acryl auf Leinwand, 100 x 100 cm
Oft kann ich nachts nicht schlafen, weil ich so sehr von dem Wunsch getrieben bin, Kunst zu machen, die allen Widrigkeiten trotzt.
– Yayoi Kusama: Infinity Net. Meine Autobiografie, 2002